Demokratiebildung kompakt: Was 120 Minuten für Demokratie 2025 vermittelt hat
Beitrag vom 04.12.2025
Von Radikalisierungsprozessen bis Medienkompetenz: Der Rückblick zeigt zentrale Erkenntnisse der Reihe und bietet Impulse, Materialien und Verlinkungen für die weitere Arbeit.
Wie kann Demokratiebildung gelingen, gerade in ländlichen Räumen?
Die Online-Reihe „120 Minuten für Demokratie“ hat in ihrer zweiten Auflage 2025 gezeigt, dass intensive, gut kuratierte Kurzformate nachhaltige Wirkung entfalten können. Sechs Sessions zwischen Juli und Oktober boten Menschen in der ländlichen Bildungsarbeit in Schulen, Verbandsarbeit oder Bildungshäusern die Gelegenheit, ihre Expertise zu aktuellen Themen der politischen Jugendbildung und Extremismusprävention zu erweitern, ihr Methodenwissen zu vertiefen, neue Impulse zu erhalten und sich mit anderen zu vernetzen und auszutauschen. Wir freuen uns, dass über 80 Personen an ein bis sechs Sessions teilnahmen und über die positive Resonanz:
„Alle Themen sind sehr wichtig, vielen Dank für die Aufarbeitung und Vermittlung!“
„Herzlichen Dank für den stets wertschätzenden kollegialen Austausch“
„Das Format ist super!“
Wir geben an dieser Stelle einen Einblick in die Inhalte der Sessions, vertiefen ausgewählte Themen (Radikalisierung und Medienkompetenz) mit zusätzlichen Praxisimpulsen und verweisen bei allen Sessions auf weiterführende Materialien sowie passende Vertiefungs- und Fortbildungsangebote.
Session 1: Radikalisierung verstehen
Den Auftakt gestaltete Ricarda Milke vom Verein Miteinander e. V.. Neben Begriffsklärungen, sozialwissenschaftlichen Einordnungen und Modellen, gab sie insbesondere einen tiefen Einblick in die sozial-emotionalen und umfeldbezogenen Dynamiken der Entstehung von Extremismus.
Radikalisierung, so Milke, ist selten ein plötzlicher Bruch, sondern häufig eine Anpassungsstrategie, um mit inneren Spannungszuständen, Ohnmachts- oder Schuldgefühlen umzugehen. Sie befriedigt Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Orientierung, Stärke, Anerkennung und Schutz, besonders in Phasen jugendlicher Unsicherheit, in denen tiefgreifende neurobiologische Veränderungen stattfinden und Identität und Werte noch im Fluss sind.
Ein zentrales Risiko liegt darin, dass junge Menschen mit instabilem Selbstwertgefühl, ungünstigen Beziehungserfahrungen und mangelnden Kompetenzen, Widersprüche auszuhalten, in Gruppen und Ideologien Halt finden, die diesen Mangel kompensieren. Der Hinwendungsprozess kann ein temporäres Durchgangsphänomen sein und eine Form des „Zurechtkommens“ mit Entwicklungsherausforderungen, aber sich eben auch weiter intensivieren.
Für die Bildungsarbeit bedeutet das:
Prävention heißt nicht zuerst Überzeugen, sondern Verstehen und Beziehung anbieten.
Gerade in ländlichen Räumen, wo soziale Nähe groß und Anonymität gering ist, braucht es Mut zur Haltung und Räume für offenen Widerspruch. Orte, an denen Jugendliche kontrovers diskutieren dürfen und zugleich positive Beziehungserfahrungen machen. Gleichzeitig gilt es zu erkennen, wann Bildungsarbeit, die Haltungen und Kompetenzen vermittelt, allein nicht mehr greift, sondern sozialpädagogische Maßnahmen der Distanzierungs- oder Ausstiegsarbeit von Nöten sind.
PRAXISIMPULS – Was stärkt?
- Beziehungsarbeit statt Belehrung: Jugendliche brauchen verlässliche Erwachsene, die Halt geben, ohne moralisch zu überfahren.
- Bedürfnisse sichtbar machen: In Provokation steckt oft ein Ruf nach Zugehörigkeit oder Sicherheit.
- Grenzen klar kommunizieren: Diskriminierende Sprache markieren - Betroffene schützen, mit Fokus auf Wirkung, nicht Schuld.
- Mit Kontinuität Empathiefähigkeit und „Ambiguitätsmuskel“ stärken: Bei Sachthemen oder zwischenmenschlichen Konflikten den Blick auf Mehrperspektivität üben.
- Teamintervention statt Einzelkampf: Fälle im Kollegium oder Team besprechen und Verantwortung teilen.
- Attraktive Gegenangebote schaffen: Musik, Medien, Engagement - Räume, in denen junge Menschen Gemeinschaft erleben, ohne Ausgrenzung.
- Netzwerke aktivieren: Mobile Beratung, Partnerschaften für Demokratie, lokale Initiativen einbinden.
Best Practise:
Publikation aus einem Modellprojekt des Miteinander e.V. mit Methoden und Gelingensbedingungen für die Radikalisierungsprävention in ostdeutsch-ländlichen Räumen.
Session 2: Digitale Männlichkeiten
Mit Till Dahlmüller vom Dissens Institut ging es weiter zu einem Phänomen, das in der Jugendarbeit zunehmend sichtbar wird: Maskulinistische Influencer wie Andrew Tate oder Karl Ess prägen männliche Identität in sozialen Medien. Ihre Botschaften versprechen Stärke, Erfolg und Orientierung, bedienen aber zugleich antifeministische und vielfaltsfeindliche Narrative. Sie inszenieren Männlichkeit als Selbstoptimierungs- und Überlegenheitsprojekt auf sehr ansprechende Weise, algorithmisch verstärkt. Dahlmüller zeigte: Hinter der Faszination für diese Inhalte steckt oft ein legitimes Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit. Denn Jungs und junge Männer können, insbesondere in der Adoleszenz, ein Gefühl der Orientierungslosigkeit empfinden oder nehmen die gesellschaftlichen Veränderungen von Männlichkeitsbildern als Statusunsicherheiten wahr.
Pädagogisch wirksam wird es, wenn die Unsicherheiten und Bedürfnisse anerkannt statt abgewertet und jungen Männern alternative, vielfältige und unterschiedliche Vorbilder und Erfahrungsräume eröffnet werden. Und es ist hilfreich in der pädagogischen Praxis, nicht primär über die Inhalte solcher Videos zu sprechen, sondern die Mechanismen sichtbar zu machen:
Wie erzeugt das Video Aufmerksamkeit? Welche Emotion wird getriggert? Wer profitiert davon?
So wird Ideologiekritik zur Medienkompetenzübung, nicht zur Frontstellung.
Weiterführende Informationen:
· Podcast zur „Manosphere“
· Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungenarbeit
· Handreichung für ein Konzept eines Peer-to-Peer-Trainings zur kritischen Auseinandersetzung mit Männlichkeiten
Session 3: Geschlechterreflektierte Jungenarbeit
Sebastian Scholz, der auch für das Kompetenzzentrum für geschlechtergerechte Kinder- und Jugendhilfe Sachsen-Anhalt arbeitet, brachte die Praxisperspektive dann noch vertiefter ein: Jungenarbeit bedeutet heute, Widersprüche zwischen Stärke, Verletzlichkeit und Gleichberechtigung auszuhalten und eigene Rollenbilder zu reflektieren. Dafür reflektierten die Teilnehmenden auch ihre eigenen Prägungen und Sichtweisen, um die eigene Haltung weiterzuentwickeln und lernten Methoden kennen, um zu Themen rund um Rollenbilder, Macht, Identität oder Liebe und Beziehung mit jungen Menschen zu arbeiten.
Methoden praktisch kennenlernen:
Beim Workshop 6 mit Sebastian Scholz auf dem Fachtag „Mut säen, Zukunft ernten – Demokratiebildung in ländlichen Räumen“ am 3./4. Februar 2026 bei Potsdam oder in den Fortbildungs-Angeboten des Kompetenzzentrums.
Session 4: Medienkompetenz stärken
Dass digitale Bildung keine technische, sondern eine kulturelle Kompetenz ist, verdeutlichte Katja Stenzel von Salon 5. Viele Fachkräfte zögern, Social Media in ihre Arbeit einzubinden, auch aus Sorge, „nicht genug zu wissen“. Doch gerade niedrigschwellige Tools wie Faktenchecks, KI-Bild-Erkennung oder spielerische News-Quizze eröffnen Zugänge für junge Menschen. Stenzel ermutigte, eigene Unsicherheiten abzulegen: Medienkompetenz beginnt dort, wo Erwachsene gemeinsam mit Jugendlichen üben und lernen, kritisch zu prüfen, kreativ zu gestalten und Verantwortung im digitalen Raum zu übernehmen. Wichtig ist, erst die Haltung, dann die Tools: Daher eigene Mythen hinterfragen, wie „Jugendliche wissen eh mehr“ / „Ich muss alles können“. Beides blockiert und schafft mehr Unsicherheit bei Menschen in der Bildungsarbeit und auch bei Jugendlichen. Lieber die eigenen pädagogischen Kompetenzen nutzen, um gemeinsam mit Jugendlichen lernen, zu prüfen oder zu produzieren, statt junge Menschen aus Technikfurcht mit ihren Erfahrungen in sozialen Medien allein zu lassen.
PRAXISIMPULS – Wie anfangen?
- Mit kleinen niedrigschwelligen Bausteinen beginnen: kurze Faktencheck-Sprints um Zitate/Bilder zu prüfen (Rückwärtssuche, Quelle, Datum, Ort). Vorgefertigt z.B. hier: https://der-newstest.de/
- KI-Quiz zur Bilderkennung vorbereiten oder gemeinsam entwickeln und zeigen, worauf man achten kann, wie „Hände/Ohren/Zähne“‑ Heuristik oder Zoom‑Checks auf Artefakte
- Memes selbst gestalten, um zu lernen, wie man Botschaften pointiert und wie leicht es sie zu generieren und damit Meinung zu beeinflussen.
Entscheidend ist es, Räume zu schaffen, um über die Erfahrungen in Social Media zu sprechen. Auf Augenhöhe, zuhörend, die Perspektive der Jugendlichen einnehmend und mit Anregung zur Selbstreflexion der jungen Menschen.
Austausch und Orientierung im Themenfeld Medienkompetenz:
Digital am 10.02.2026 von 9:30 bis 12 Uhr mit Jugendbildungsreferentinnen aus unserem Projekt.
Session 5: Streit wagen
Wie gelingt Dialog in Zeiten der Polarisierung? Der Landwirt und Moderator Hinrich Niemann gab Einblick in seine besonderen Dorf-Treffs und Coachin und Moderatorin Sonja Dimter begleitete die Session mit einer Check-List und Übungen zur guten Moderation.
Im Mittelpunkt: Zuhören, Wertschätzung, Klarheit – und die WWW-Regel („Wahrnehmung, Wirkung, Wunsch“) als einfaches Kommunikationswerkzeug. Die Teilnehmenden der Session entwickelten Ideen, wie solche Gesprächsräume auch in Schulen oder Vereinen umgesetzt werden können. Entscheidend sei, so ein Fazit der Gruppe, jungen Menschen sichere Lernräume für Streitkultur zu bieten, Orte, an denen sie Meinungsverschiedenheiten erleben, aushalten und konstruktiv gestalten können.
Moderationsfähigkeiten stärken – Austausch nutzen:
Wer seine Moderationsfähigkeiten stärken möchte, findet bei der Andreas Hermes Akademie Beratung für das passende Angebot.
Für Menschen aus der Landwirtschaft gibt es zum Umgang mit rechtsextremen Akteuren einen regelmäßigen Online-Stammtisch. Bei Interesse melden Sie sich gern bei Franziska Holze oder direkt an Agrar Austausch.
Session 6: Stärkung in rauen Zeiten
Den Abschluss gestalteten Prof. Dr. Nils Altner und Ann-Kristin Krings mit einer Einladung zur Selbstsorge. Bildungsarbeit, so Altner, sei „Beziehungsarbeit mit offenem Herzen“ und brauche regelmäßige innere Regeneration.
Methoden wie das „Wurzelwerk“ oder die „Licht- und Schattenreise“ aus dem Forschungsverbund FRIDA (Friedensfähigkeit, Innere Demokratisierung und Achtsamkeit in der Bildung) verbinden Achtsamkeit, Körperwahrnehmung und Demokratiebildung. Sie machten erfahrbar, dass demokratische Haltungen nicht nur kognitiv, sondern auch verkörpert und spürbar gelernt werden und vermittelten, wie diese Haltung und Übungen auch in die Demokratiebildung mit jungen Menschen einfließen können.
Weiterlesen:
Fachartikel zum Thema achtsamkeitsbasierter Persönlichkeitsbildung im Kontext der Demokratiebildung junger Menschen.
„120 Minuten für Demokratie“ ist ein Baustein, um Expertise zu erweitern, Praxisreflexion zu ermöglichen und Raum für die Weiterentwicklung der eigenen Arbeit und persönlichen Haltung zu schaffen. In einem kurzen Format voller Impulse, um junge Menschen und diejenigen, die sie begleiten, zu stärken.
Vorbehaltlich der Weiterförderung des Projekts „Abgehängt? Eingeholt! Jung, ländlich und vielfältig“ durch das BMBFSFJ wird die Reihe auch 2026 fortgesetzt. Wir freuen uns über Anregungen, Impulse und über Ihre Teilnahme im kommenden Jahr.
Wer die Einladung zur 3. Auflage der Reihe erhalten möchte, schreibt ein formlose Mail an Franziska Holze.