Zwischen Stadtmythos und Landrealität
Beitrag vom 16.10.2025
Was das Vielfaltsbarometer 2025 für ländliche Räume verrät - und was das für Jugendbildung heißt
Vielfalt – nur ein Thema der Städte?
Wenn über gesellschaftliche Vielfalt gesprochen wird, schaut man meist zuerst auf die Städte, vor allem Großstädte: Urbane Räume gelten als offen und durchlässig, ländliche Regionen dagegen als zurückhaltend oder skeptisch. Das Vielfaltsbarometer 2025 widerspricht dieser Vorstellung und zeigt: Die Spannungen verlaufen nicht mehr zwischen Stadt und Land, sondern mitten durch die Gesellschaft.
Studienlage: Regionale Differenzen, aber kein Stadt-Land-Gefälle
Für das Vielfaltsbarometer wurden 4.761 Menschen ab 16 Jahren befragt (Vgl. S. 12). Die Daten werden nach Bundesländern ausgewertet; direkte Kategorien zu Siedlungstrukturen wie „ländlich“ oder „urban“ werden nicht erhoben. Über die Bundesländer lässt sich jedoch ablesen, dass sich die Werte zwischen traditionell urbanen und ländlich geprägten Regionen deutlich angenähert haben. Der bundesweite Index zur Akzeptanz von Vielfalt sank von 68 Punkten (2019) auf 63 Punkte (2025) (Vgl. S. 12). Während 2019 noch bis zu zehn Punkte zwischen den Bundesländern lagen, sind es 2025 nur noch sechs (Vgl. S. 27).
Annäherung heißt: Vielfalt ist Alltag, auch jenseits der Metropolen
Westdeutsche Bundesländer haben stärker verloren und liegen nun näher an den ostdeutschen Bundesländern, die oft mit ländlichen Strukturen verbunden werden. Das frühere West-Ost-Narrativ trägt damit nicht mehr, Vielfalt wird überall verhandelt. Schauen wir auf Regionen wie Schleswig-Holstein oder Nordrhein-Westfalen, die große ländliche Räume umfassen, liegen beim Index weit oben. Der Stadtstaat Hamburg sticht als urbaner Referenzpunkt heraus, steht mit seinen Werten aber nicht mehr deutlich über den Flächenländern. (Vgl. S. 27, Karte 1).
Differenzierte Blickrichtung: Wo liegen Spannungsfelder?
Es zeigt sich in der Studie sehr deutlich: Die niedrigsten Akzeptanzwerte zeigen sich weiterhin in den Dimensionen Religion und ethnische Herkunft. Die Akzeptanz ethnischer Vielfalt fiel im Bundesdurchschnitt von 73 auf 56 Punkte, der stärkste Rückgang aller Dimensionen (Vgl. S 37). In einigen ostdeutschen, ländlich geprägten Bundesländern liegen die Werte deutlich unter dem Durchschnitt. Die Dimension Religion liegt mit durchschnittlich 34 Punkten am niedrigsten, Brandenburg erreicht sogar nur 25 Punkte (Vgl. S. 30). Diese Differenzen markieren keine pauschale Ablehnung, sie zeigen eher, wo gesellschaftlich besonders stark um eine Aushandlung gerungen wird.
Zugleich zeigt die Dimension sozioökonomische Schwäche kein klares geographisches Muster mehr. Damit wird sichtbar: Gesellschaftliche Spannungen entstehen nicht ausschließlich durch Raumstruktur, sondern durch soziale Erfahrungen vor Ort.
Haltungen zu Vielfalt: Spannungen verlaufen mitten in der Gesellschaft
Die Studie der Robert-Bosch-Stiftung unterscheidet drei Gruppen mit unterschiedlichen Haltungen zu Vielfalt: Menschen mit hoher Offenheit, die Vielfalt als Bereicherung sehen (Cluster „Kosmopolit:innen“, ca. 50 %, Ø 73 Punkte); Menschen mit starkem Bedürfnis nach Schutz und Abgrenzung, die Vielfalt eher kritisch bewerten (Cluster „Protektionist:innen“, 21 %, Ø 56 Punkte); und Menschen mit genereller Skepsis gegenüber Veränderungen, die in fast allen Dimensionen zurückhaltend reagieren (Cluster „Vielfaltsskeptiker:innen“, 30 %, Ø 52 Punkte) (Vgl. PDF S. 42ff). Damit wird klar: Zwischen diesen Gruppen liegen bis zu 17 Punkte Unterschied, in allen Regionen, nicht nur „auf dem Land“ (Vgl. S.9 und 42). Ländliche Räume sind damit kein homogener Gegenpol zur Stadt, sondern Teil derselben gesellschaftlichen Dynamik. Die unterschiedlichen Perspektiven verlaufen zwischen den Menschen auch an denselben Orten. Im Sportverein, im Kollegium bei Lehrkräften, im Betrieb, im Fitnessstudio oder im Bus.
Empathie und Kontakt als Schlüsselressourcen
Das Vielfaltsbarometer formuliert klar: „Empathie ist der Schlüssel zur Akzeptanz von Vielfalt.“ (Vgl. S.9). Menschen zeigen dort größere Offenheit, wo Begegnung möglich ist. Akzeptanz entsteht nicht als moralische Forderung, sondern durch konkrete soziale Erfahrung, im direkten Kontakt, im Gespräch, im geteilten Alltag. Sie geschieht in formellen und arrangierten Kontexten, vor allem aber auch einfach durch Erfahrungen im gelebten Miteinander.
Jugendbildung als Erfahrungsraum für Vielfalt
Gerade in ländlichen Räumen, in denen soziale Beziehungen oft langfristig und persönlich sind, liegt hierin ein besonderes Potenzial. Vielfalt wird nicht durch Appelle gelernt, sondern durch Erleben.
Für die politische Jugendbildung bedeutet das: Wer jungen Menschen Räume eröffnet, in denen Verschiedenheit erfahrbar und besprechbar wird, schafft Voraussetzungen für Empathie. Und damit für Akzeptanz.
Ländliche Räume sind dabei nicht nur Orte, an denen etwas „aufgeholt“ werden muss, sie sind soziale Erfahrungsräume, in denen gesellschaftlicher Zusammenhalt konkret verhandelt werden kann.
Quelle: Vielfaltsbarometer 2025
Artikel der Robert-Bosch-Stiftung zu zentralen Ergebnissen
Text: Franziska Holze, Projektleitung und Bildungsreferentin bei der Andreas Hermes Akademie