Interview: Hajar und Leonie

Beitrag vom 24.11.2022

Blick der beiden jüngsten Bildungsreferentinnen auf die ländlichen Räume, Jugendbildung und Politik

Leonie Heins und Hajar S‘hili sind seit Januar 2022 als Jugendbildungsreferentinnen im Projekt „Abgehängt? Eingeholt! Jung, ländlich & vielfältig“ des Verbandes der Bildungszentren im ländlichen Raum beschäftigt. Das Projekt wird von der Andreas Hermes Akademie durch Franziska Holze koordiniert. Die beiden jungen Bildungsreferent:innen beantworten in diesem Interview Fragen zum Projekt, zur Situation von jungen Menschen, zum ländlichen Raum und zur Politik.

Was begeistert dich im Projekt „Abgehängt? Einholt! - jung ländlich vielfältig“?

Leonie: „Ich finde das Projekt superspannend, weil es in der Zusammenarbeit aller Bildungsrefent:innen so viele Räume gibt, sich über Erfahrungen auszutauschen. Alle gehen das Projekt auf sehr unterschiedliche Weise an, wir tauschen uns dazu aus und alle Herangehensweisen werden wertgeschätzt und ernst genommen. Auch die Angebote für die Respekt Coaches und Schüler:innen selbst gestalte ich sehr erfahrungsbasiert. Sie halten selbst so viel Potenzial bereit und wir geben Räume dafür. Das finde ich total schön.

Hajar: Ich bin geprägt durch meinen migrantischen Backround, meine Biografie und die Erfahrungen, die ich gemacht habe. Ich habe dadurch eine sensibilisierte Wahrnehmung für Dinge wie Diskriminierung, Rassismus und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft. Mir hat sich früher oft die Frage gestellt, warum das so ist. Inzwischen bin ich an dem Punkt zu fragen: „Was kann ich dagegen tun? Wo habe ich die Möglichkeit aktiv zu werden und proaktiv dagegen anzugehen?“. Mich hat die Stellenanzeige daher sofort angesprochen. Mich begeistert die Offenheit des Projekts und dass ich unterschiedliche Themenschwerpunkte setzen kann. So kann man einen Footprint hinterlassen, selbst, wenn es nur ein kleiner ist. Ein kleiner Schritt kann zu etwas Größerem werden. 

Wir leben in Zeiten einer Krisenverdichtung. Viele Jugendstudien zeigen, wie stark sich das auf junge Menschen auswirkt. Was bedeutet es für dich in Zeiten von Klimawandel, Corona, Ukrainekrieg und Inflation mit jungen Menschen zu arbeiten?

Leonie: Ich bin hin- und hergerissen und finde es herausfordernd. Einerseits möchte ich jungen Menschen eine Perspektive und Hoffnung geben. Andererseits finde ich es auch wichtig dieses Ohnmachtsgefühl, weil so viel ungewiss ist, ernst zu nehmen. Das ist der Zwiespalt, in dem ich mich in der Arbeit mit Schulklassen bewege. Ich finde es einfach wichtig dieses Gefühl aufzufangen und einen Raum dafür zu schaffen, ganz unverfänglich auch darüber sprechen zu können, wenn es einem nicht gut geht. Aus dem Gehört werden und dem Gemeinschaftsgefühl kann dann wieder Zuversicht entstehen. Ohne eine Zukunftsperspektive aufzudrücken. Ich möchte einen Raum geben, in dem jungen Menschen die Erfahrung machen gehalten zu sein und das es auch cool ist , im Jetzt zu leben und das es Chancen gibt.

Hajar: Ich kann mich da anschließen. Im Dialog mit den Kindern und Jugendlichen merkt man, dass es viele neue Herausforderungen gibt. Sie haben das Gefühl, dass ihnen etwas weggenommen worden ist und sie spüren eine innere Leere. Ihnen fehlt aber oft noch die Sprache, um zu benennen, was in ihnen vor geht. Man spürt, dass sie versuchen etwas zu kompensieren. Manchmal auf gute und manchmal auf weniger gute Art und Weise. Wir als Bildungsreferent:innen versuchen auch, dieses Chaos an Gefühlen mit ihnen einzuordnen und sie aufzufangen. Das ist aber nicht immer einfach. Wir sind auch Menschen und das, was die aktuelle Situation mit den Kindern und Jugendlichen macht, macht es irgendwie auch mit uns jungen Erwachsenen. Ich selbst denke oft an die Zukunft mit all den Ungewissheiten in Bezug auf den Klimawandel, Kriege oder Inflation. Die Pandemie war schon schwierig, aber jetzt alles zusammen macht die Sache noch herausfordernder.

Leonie: Ich fand Hajars Aussage: „Dabei helfen Dinge einzuordnen“ toll und wichtig. Oft ist es den Jugendlichen unklar, was sie an Situationen stört und sie können noch nicht analysieren, was das für Gedanken oder Gefühle sind. Also: „Stört mich etwas in der Politik oder bei mir persönlich, vielleicht in meiner Familie?“. Dabei versuchen wir zu unterstützen.

Franziska: Das klingt ein wenig nach einer modernen Übersetzung von Humboldt. Der beschreibt den Bildungsbegriff als das Austarieren zwischen mir und der Welt. Die Reflexion von Selbst- und Weltbezug. Immer wieder die Perspektive zu wechseln. Schön, dass sich dieser ganzheitliche Ansatz so ganz praktisch in eurer Arbeit wieder findet. 

Wo siehst du die Herausforderungen mit denen junge Menschen in ländlichen Räumen konfrontiert sind?

Hajar: Wenn man mit ihnen spricht, merkt man, dass bei ihnen das Gefühl da ist, dass sie zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. Alle coolen Dinge passieren in der Stadt. Wir sind die „Dorfmenschen“ und werden abgestempelt. Ich glaube, dass junge Menschen in ländlichen Räumen mehr Vernetzungsmöglichkeiten brauchen. Orte der Begegnung, wo sie nach der Schule hinkönnen. Und sehr wichtig ist und bleibt die Infrastruktur. Von Bad Bederkesa, wo ich arbeite, ist die nächste größerer Stadt Bremerhaven eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Der Bus fährt nur stündlich und nicht verlässlich. Das ist für junge Menschen schwierig.

Leonie: Ich bin in Hermannburg, dem Ort in dem ich jetzt arbeite, aufgewachsen und habe hier 18 Jahre lang gelebt. Was supercool ist und was ich durch die Arbeit gemerkt habe, ist die starke Vernetzung der Leute untereinander -  sie wissen, an wen sie sich wenden können. Man geht mit der Bürgermeisterin zusammen in denselben Supermarkt. Diese Nähe hat super viel Potenzial. Es scheitert dann daran,  das diese Vernetzung nicht über die Ortsgrenzen hinaus geht. Es fehlt die Power, das junge Menschen z.B. zum Landkreis gehen mit den eigenen Anliegen. Vor Ort laufen Dinge bei uns meist ganz gut, man versteht sich und ist einer Meinung. Es gibt daher auch in Vereinen nicht das Bedürfnis sich überregional oder bundesweit zu vernetzen. Die Notwendigkeit zum Austausch wird nicht gesehen. Die Kommunikation „nach draußen“ sehe ich damit als Herausforderung. 

Ihr seid beide Jahrgang 1998. Ihr gehört zur Generation Z, denen man z.B. nachsagt, dass sie sehr viel mehr globaler und digitaler orientiert sind als die Generationen vor ihnen. Zu allen Generationen gibt es positive und negative Attribute. Was haltet ihr von Zuschreibungen zu bestimmten Generationen? Habt ihr das Gefühl, dass es ganze Generationen sind, die sich verändern und andere Werte vertreten?

Hajar: Ich empfinde das schon so. Ich finde die Memes zu den Generationen immer sehr witzig. Ich muss kurz ausholen: Mein Vater kam in den Sechzigern nach Deutschland. Er ist Arbeiter in einem Stahlwerk gewesen. Ich bin die erste Generation, die hier geboren wurde. Wir sind von dem Trauma und dem, was unsere Elterngeneration durchmachen mussten, geprägt. Wir sind die Generation, der „Me-Time“, uns selbst auch mal an erste Stelle stellen, wichtig ist. Für die die Arbeit nicht immer Priorität Nummer Eins ist. Wir müssen erst mal im Einklang mit uns selbst sein und dann können wir noch besseres Schaffen. Ich glaube das war eben nicht so in den Generationen vor uns. Sie mussten arbeiten, Nine to Five, was aufbauen, schaffen, machen, machen, machen. Ich habe das Gefühl, dass die Generation von Leonie und mir da anders ist. Wir wollen auch arbeiten und Sachen erreichen. Wir versuchen aber darauf zu achten, dass es uns mental gut geht. Mentale Gesundheit spielt für uns eine viel größerer Rolle. Meine Schwester ist 18 Jahre älter. Wenn ich mit ihr spreche, stellt sich heraus, dass man vor 20 oder 30 Jahren nicht einfach sagen konnte: „Ich muss jetzt zum Therapeuten, mir geht’s gerade richtig scheiße“. Das gab es nicht. Da hat man eher flapsig gesagt, du hast wohl zu wenig gearbeitet, du Faule. Und da sieht man einen großen Fortschritt, den wir wohl auch mit in Bewegung gebracht haben. Natürlich auch die Millennials vor uns. Die Prioritäten verschieben sich.

Leonie: Ich sehe Zuschreibungen zu Generationen zwiegespalten. Manchmal sind sie erleichternd, da man sich dann nicht so sehr rechtfertigen muss. Zum Beispiel dafür, dass wir mit viel mehr Digitalisierung groß geworden sind oder mit dem Privileg des Wohlstandes. Meine Großeltern verstehen langsam, dass wir eben nicht mehr die sind, die zum Telefonhörer greifen, sondern eher eine Kurznachricht schicken. Gleichzeitig hat es seine Schattenseite, alles nur auf eine Genration zu schieben. Selbstverwirklichung halte ich nicht nur für ein Bedürfnis der Generation Z, sondern das war vermutlich schon immer ein krasser Wunsch von Menschen. Die Frage ist nur, wie sehr man ihn ausleben konnte und durfte. Wir haben einfach das Privileg, das wir es mehr können und dürfen als Generationen vor uns.

Wenn ihr konkret auf euch beide schaut - was würdet ihr sagen verbindet und was unterscheidet euch?

Leonie: Mir fällt es nicht so leicht, etwas zu nennen. Ich glaube, was wir gemeinsam haben, ist die Haltung Erfahrungen von Anderen anzuerkennen und dass wir neugierig sind.  Die Erfahrungen, die wir im Leben gemacht haben, sind bei uns beiden vermutlich sehr unterschiedlich. Wir sind anders sozialisiert. Aber uns verbindet viel und manchmal werden die Unterschiede erst durch die Labels oder eine Kategorisierung deutlich. 

Hajar: Genau das ist es. Ich könnte jetzt auch einfach sagen, meine Wurzeln sind in Marokko, Leonies in Deutschland, ich habe schwarzes Haar, Leonie nicht, ich bin Muslima, Leonie Christin. Aber ich habe die Frage anders verstanden. Ich habe mich gefragt, was feiern wir vielleicht beide gerade? Wenn wir uns sehen, lachen wir über dieselben Dinge. Wir sind keine oberflächlichen Menschen und haben die Frage auch nicht so verstanden. Allein das eint uns.

Schauen wir auf die Demografie unserer Gesellschaft zeigt sich ganz klar das Übergewicht von älteren Menschen gegenüber den Jungen. Wir stehen als Gesellschaft vor großen Herausforderungen, Umbrüchen, aber auch Chancen. Damit werden vor allem die jungen Menschen konfrontiert sein. Was glaubt ihr braucht es, damit sich die jungen Menschen als Gemeinschaft verstehen?

Leonie: Vielleicht klingt das jetzt etwas langweilig, aber für mich ist es der Dialog. Das miteinander Reden, vor allem auch Zuhören und das Zuhören wollen. Die Bereitschaft bei einem Gespräch etwas Neues dazuzulernen. Nicht jemanden zu überreden, was ich denke. Sich ernst nehmen. Das braucht es viel, viel mehr und weniger Ansagen von oben.

Hajar: Der Dialog ist wichtig und die Bereitschaft etwas Neues lernen, hören und verstehen zu wollen. Toleranz, Akzeptanz und Offenheit wird auch Jung und Alt miteinander vereinen.

Was seht ihr als die drei wichtigsten Zukunftskompetenzen von jungen Menschen?

Hajar: Ganz klar: Toleranz, Akzeptanz und Respekt. Wenn man das mitbringt, kann Gutes entstehen. Denn sobald du etwas tolerierst, fängst du an es zu akzeptieren und Respekt ist die übergeordnete Fähigkeit. Respekt vor sich selbst, vor anderen Menschen, vor der Umwelt. Das halte ich für äußerst wichtig.

Leonie: Ich Moment habe ich nur zwei. Mir fällt direkt, und ich bin kein romantischer oder kitschiger Typ, die Fähigkeit zur Liebe ein. Egal ob sie an Personen gerichtet ist, die man liebt, an sich selbst oder für seine Umwelt. Liebe muss man vielleicht auch manchmal erst lernen, weil es auch etwas mit Ängsten zu tun hat und bedeutet, sich mit Dingen zu konfrontieren. Liebe stiftet auch Hoffnung für die Zukunft. Die zweite Kompetenz ist die Handlungsfähigkeit. Also sich zu trauen ins Handeln zu kommen. Es ist schön, wenn Leute schlaue Dinge sagen, aber es braucht Mut Dinge auch ins Tun zu bringen. Zu diesem Mut möchte ich junge Menschen einladen und sie dafür stärken. 

Wenn ihr hier und heute eine politische Veränderung sofort erwirken könntet, welche wäre das?

Hajar: Ich habe eine ganze Liste mit Veränderungswünschen! Ich bin dankbar für die Demokratie, das beste politische System, das man haben kann, und hier leben zu können. Aber hätte ich die Möglichkeit, würde ich sehr viel verändern. Wenn ich mich auf eine Sache beschränken müsste, wäre es, auch in Hinblick auf meine Arbeit, mehr Unterstützung und Geld in der Bildung. Die Not spüre ich in Gesprächen mit Lehrkräften, Schulleitungen, Respekt Coaches und Schulsozialarbeiter:innen.

Leonie: Bei mir ist es weniger spezifisch. Ich würde fordern, dass Politiker:innen Sprache benutzen, die für alle verständlich ist. Es muss viel mehr Wert auf Niederschwelligkeit gelegt werden, damit wirklich alle einbezogen werden. Es gibt viele Dinge in der Politik, die gut laufen und einiges läuft auch nicht gut. Aber wenn es nicht transparent ist und ich die Dinge nicht wirklich hinterfragen kann, weil ich sie nicht verstehe, dann ist das schwierig. Vor allem bei jungen Menschen sorgt das für Verdrossenheit, wenn Sie nicht das Gefühl bekommen, dass es die Politik zumindest versucht. Es sollte weniger um Wettbewerb gehen im Wahlkampf, sondern mehr Fokus auf Kooperation gesetzt werden und die Sache … Hajar: … es braucht weniger falsche Versprechungen und mehr Transparenz.

Vielen Dank für das Interview!

Das Interview wurde durch Franziska Holze per Onlinekonferenz geführt und dann verschriftlicht und gekürzt. Für die bessere Lesbarkeit entsprechen die Äußerungen nicht immer dem exakten mündlichen Wortlaut.